Brauch ich `nen billigen Arbeitsmann, schaff ich mir einen Lehrling an.
Das Hörspiel ‚Berufsbild‘ von Frank Göhre
Das Hörspiel Berufsbild von Frank Göhre, das 1971 im NDR erstmals ausgestrahlt wurde, thematisiert mit der Lehrlingsausbildung ein Problemfeld, welches in diesem Blog bislang noch nicht zur Sprache kam.
Nicht nur in den weiterführenden Schulen sondern auch in den Berufsschulen und den Betrieben begann es seit 1968 zu rumoren: Allzu weit klafften Anspruch und Wirklichkeit in der Ausbildung auseinander. Lehrlinge schlossen sich beispielsweise in der „Arbeitsgemeinschaft Lehrlinge für eine bessere Berufsausbildung“ zusammen, um gegen veraltete Ausbildungssysteme und undemokratische Strukturen in den Betrieben zu protestieren. Auf Demonstrationen, Flugblättern und Protestplakaten wurden Missstände wie der Missbrauch von Lehrlingen als billige Arbeitskräfte und mangelnde betriebliche Unterweisungen angeprangert. 1970 wurden die Ausbildungs-Missstände auch durch eine Reihe von Prozessen am Landgericht Essen publik, in denen Lehrlinge ihre Sitution in ihren usbildungsbetrieben schilderten. Sie beklagten u.a., dass sie anstelle einer geregelten Ausbildung zu Hilfsarbeiten, ausbildungsfremden Tätigkeiten und Botengängen herangezogen würden.
Anknüpfend an die Essener Lehrlingsprozesse und basierend auf einem intensiven Austausch mit Lehrlingen gibt der Ruhrgebietsautor Frank Göhre in seinem Hörspiel Berufsbild einen vertieften Einblick in den Alltag eines Lehrlings. In insgesamt zehn Szenen können die Zuhörer eine stetige Verschlechterung der Situation des kaufmännischen Lehrlings Helmut K. verfolgen. Sein Arbeitstag besteht aus Lagerarbeiten, dem Leeren der Papierkörbe, dem Reinigen der Toiletten und dem Besorgen von Lebensmitteln für die Mittagspause der Vorgesetzten. Konterkariert werden seine Schilderungen dieser Missstände durch Auszüge aus dem Lehrvertrag und der Berufsausbildungsverordnung. Weder seine Fluchten aus dieser Misere (Kino!) noch sein Engagement in der Lehrlingsbewegung können an dieser Situation etwas ändern, so dass Helmut K. am Ende seine Lehre abbricht.
Das Hörspiel gewinnt vor allem durch das Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Sichtweisen an Eindringlichkeit: Statements von Lehrlingen, Angestellten, Lehrmeistern, Berufsschullehrern, einem Mitarbeiter beim Arbeitsamt und der Mutter von Helmut K. kreisen die berufliche Lage des Lehrlings von verschiedener Warte her ein. Dabei ist es desillusionierend, dass sich die Situation des Lehrlings Helmut K. weder durch Demonstrationen und Protest noch durch innere Emigration zum Besseren wenden lässt.
Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet Frank Göhre bewusst nicht an, um Diskussionen und Lösungsvorschlägen ein möglichst breites Feld zu eröffnen.
Alles in allem wirft das Hörspiel des bekannten Ruhgebietsautors ein bezeichnendes Licht auf die Lebenswirklichkeit von Lehrlingen in den 1960er Jahren und darüber hinaus, deren Situation im Vergleich zu den Schülerinnen und Schülern noch dadurch erschwert wurde, dass Proteste schnell in eine Entlassung einmünden konnten.
Christiane Cantauw