Es ist nicht immer leicht, die Vergangenheit in der Gegenwart widergespiegelt zu sehen!"
Unser Kooperationspartner, die Karla-Raveh-Gesamtschule in Lemgo, bereitet für den 18.06.2018 einen bunten Abend zum Thema Schüler(protest)bewegung ´68 vor. In den Kursen Darstellen und Gestalten (Kl. 8, Frau Eulenstein) sowie Geschichte (Jahrgang 13, Herr Dahlweid) und Literatur (Jahrgang 12, Herr Schmidt-Rhaesa) laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Philipp Schmidt-Rhaesa hatte trotzdem noch ein paar Minuten Zeit für ein Gespräch:
Herr Schmidt-Rhaesa, in der Karla-Raveh-Gesamtschule in Lemgo wird ein bunter Abend veranstaltet, an dem sich alles um das Thema "Schüler(protest)bewegung 68" dreht. Können Sie uns einen Einblick geben, was die Zuschauerinnen und Zuschauer da erwartet?
Wir führen an diesem Abend zwei Theaterproduktionen mit insgesamt über 50 Beteiligten zusammen. Die Achtklässler haben im Fach Darstellen und Gestalten viel mit Musik, Texten und Ereignissen aus der Zeit der 60er und frühen 70er gearbeitet. Sie stellen immer wieder die Frage „Was hat das mit uns zu tun?“. Zu sehen sind Spielszenen, Choreografien und sehr individuelle Auseinandersetzungen bis hin zum Puppenspiel. In jedem Fall wird ihre Aufführung sehr visuell sein, schon allein, weil über vierzig Schülerinnen und Schüler hier zusammenarbeiten. Die Schülerinnen und Schüler im Literaturkurs der zwölften Klasse haben einen ähnlichen Anknüpfpunkt gefunden. Sie lassen eine „Zeitreisende“ auftreten, die an einer Schule von heute auftaucht und die Jugendlichen nach ihrem Leben, nach ihrem Protest befragt. Auch hier werden Spielszenen ergänzt durch Musik, Choreografie und Elemente des Performance-Theaters.
Die Schüler(protest)bewegung liegt mittlerweile schon rund 50 Jahre in der Vergangenheit. Können die Schülerinnen und Schülern von heute nachvollziehen, worum es den Teenagern damals ging?
Nur, indem man sie über ihre eigenen Bedürfnisse und ihre eigene Situation an die Zeit heranführt. Es ist nicht immer leicht, die Vergangenheit in der Gegenwart widergespiegelt zu sehen. Im Laufe der Arbeit hat beispielsweise eine Mädchengruppe sich mit der Rolle von jungen Frauen in der Gesellschaft beschäftigt, und bei sich ein großes Unbehagen an Frauenbildern und den Vorstellungen festgestellt, die über sie geäußert werden. Dabei sind sie ausschließlich von ihren eigenen Erlebnissen ausgegangen. Hier eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen, in die Zeit des Kampfes gegen ein restriktives Frauen- und Familienbild, war nicht schwer. Fast entsetzt mussten die Kursmitglieder – auch die männlichen – feststellen, dass in vielen Punkten eigentlich 'fast gar nichts passiert ist seitdem'.
Welche Themen und Fragen der damaligen Zeit sind aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler heute noch relevant?
Neben dem eben beschriebenen Themenkreis ist es zum Beispiel ganz wesentlich der Umgang mit Autoritäten. Die Schülerinnen und Schüler stellen beispielsweise autoritäre Mechanismen im Schulleben in Frage. Sie kritisieren etwa, dass die Schülervertretung mitnichten eine Schülermitbestimmung ist, zumindest nicht in den wirklich entscheidenden Bereichen. Wie die Schülerinnen und Schüler der 60er-Jahre stehen sie fassungslos vor einzelnen Lehrkräften, die ihre Autorität anscheinend als Selbstzweck begreifen. Diese Kritik äußern sie sehr direkt - da muss man als Lehrer manchmal sehr tapfer sein…
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem zweiten Weltkrieg steht (noch?) nicht im Fokus. Das mag daran liegen, dass an unserer Schule, deren Namensgeberin eine erst kürzlich verstorbene Auschwitz-Überlebende ist, diese Auseinandersetzung bereits an vielen Stellen geführt wird. Das bewegte Leben der Namenspatronin war in den vergangenen Jahren häufig das zentrale Thema in erfolgreichen Theaterproduktionen der Schule. Dennoch spielt der Krieg auch in unserer Produktion eine Rolle, und zwar in Gesprächen über die Bundeswehr und die (damalige) Wehrpflicht. In einer Probe haben sich die Schülerinnen und Schüler ausführlich dazu geäußert. Hier war es für uns überraschend zu hören, dass eine Zeit beim Militär durchaus von einer Mehrheit als Chance gesehen wird, Orientierung, Disziplin und Verantwortungsbewusstsein zu gewinnen. Den Bruch zwischen der Sehnsucht nach Autoritäten außerhalb und den Problemen mit der Autorität innerhalb der Schule werden wir szenisch verarbeiten.
Auf welche Weise haben Sie als Lehrer die Schülerinnen und Schüler an das Thema herangeführt?
Über das Spielen, über Materialien und über das Erzählen. Der Theaterpädagoge und Künstler Stefan Schäfer, der mir bei der Arbeit ganzjährig und maßgeblich zur Seite steht, hat den Schülerinnen und Schülern am Anfang nur das Wort „Protest“ gegeben. In einem Schauspielworkshop erarbeitete er dann Grundlagen der szenischen Darstellung von Protest und Selbstbehauptung allein und in der Gruppe. Zusätzlich haben wir mit Filmmaterial, Interviewauszügen aus dem Projekt, Materialien aus dem Blog und literarischen Texten gearbeitet. Darüber sind wir zu eigenen Texten gekommen. Beispielsweise haben wir die Gruppenmitglieder gebeten, z.B. typische Lehrersätze zu formulieren und szenisch umzusetzen. Daraus entstehen kleine Szenen, die später in den Zusammenhang integriert werden.
Mit der Filmemacherin Anna Maria Schneider produzieren die Kursmitglieder kurze „Protestvideogramme“, in denen sie sich zu Themen äußern, die sie bedeutsam finden. Und die Choreografin Patricia Struffolino unterstützt die Schülerinnen und Schüler bei der Entwicklung choreografischer Szenen. Die Arbeit mit unseren außerschulischen Partnern begeistert die Schülerinnen und Schüler, sodass sie sich auf das Projekt einlassen können und experimentierfreudig werden.
Wir erzählen als Kursleiter auch von unserer eigenen Kindheit und Jugend, denn wir – Jahrgang 1965 und 1970 - haben ja konkrete Erlebnisse mit „den 68ern“ und der Zeit, sie sie maßgeblich geprägt haben.
Vielen Dank für das Gespräch!